Suche nach dem Taschentuchbaum

Als Carl von Linné im Jahre 1753 mit seinem Werk Species plantarum eine Zusammenstellung aller bis dahin bekannten Pflanzen vorlegte, stammten von den 5.900 Arten nur etwa 100 aus China oder Japan. Anders als in Amerika und Afrika, wo die europäischen Staaten längst Fuß gefasst hatten, sollten die Entdeckungen in Ostasien noch rund 100 Jahre auf sich warten lassen.

Die damals sehr geringe Kenntnis dieser Region lag in der fast vollständigen Abschottung der ostasiatischen Staaten begründet, die im Falle Chinas erst durch den Opiumkrieg (1839-42) gebrochen werden konnte. Standen den Europäern zunächst nur wenige Küstenstädte wie Kanton, Hongkong oder Schanghai offen, war China nach 1860 gezwungen, den Europäern freien Zugang im gesamten Land zu gewähren. Damit begann die Epoche der großen „Pflanzenjäger“ in Ostasien. Sie suchten aus Abenteuerlust, Wissensdrang oder im Dienste großer Gärtnereien nach neuen Pflanzen oder waren beauftragt, Nutzpflanzen wie etwa den Tee für den Anbau in Indien zu sammeln. Die Zahl der aus Ostasien in Europa eingeführten Bäume und Sträucher stieg so zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf mehr als 1.000 Arten.

Die Pflanzenwelt Ostasiens ist die artenreichste auf der nördlichen Halbkugel. Allein China beherbergt schätzungsweise 30.000 Pflanzenarten – doppelt so viele, wie im gesamten Europa vorkommen. Chinas Naturraum reicht vom Himalaja über die Wüsten des Tarim-Beckens und die Steppen der Inneren Mongolei bis zu den immergrünen Lorbeerwäldern und tropischen Regenwäldern im Süden. Die starke Zerklüftung der Gebirgsregionen, das vielfältige, vom Monsun geprägte Klima, aber vor allem die im Vergleich zu Europa und Nordamerika viel geringere Vergletscherung während der Eiszeiten haben zu der enormen Pflanzendiversität geführt. In kleinen Rückzugsgebieten haben hier einige der ältesten „lebenden Fossilien“ wie der Ginkgo (Ginkgo biloba) oder der Urweltmammutbaum (Metasequoia glyptostroboides) überdauert.

Auch wenn die große Zeit der europäischen Entdeckungen in Ostasien erst im 19. Jahrhundert begann, liegen die ersten Kontakte mit der Pflanzenwelt Chinas doch sehr viel weiter zurück. Vom Altertum bis ins 15. Jahrhundert hatte über die Verkehrswege der Seidenstraßen ein stetiger Austausch zwischen den östlichen und westlichen Kulturen stattgefunden. Auf diesen Handelswegen wurden nicht nur die kostbaren Seidenstoffe in den Westen transportiert, sondern es gelangten auch Gewürze, Nutz- und Zierpflanzen vom Fernen Osten über den Orient ins östliche Mittelmeergebiet. Als im 6. Jahrhundert das Geheimnis der Seidenherstellung im Westen bekannt wurde, führte man mit den Kokons der Seidenraupe auch deren Futterpflanze, den Maulbeerbaum (Morus alba) zunächst in Kleinasien, ab dem 12. Jahrhundert in Italien und später in ganz Europa ein. Noch früher, etwa im 4. Jahrhundert vor Chr. waren über die Perser aus Indien oder China die ersten Zitruspflanzen (Citrus medica) in den Vorderen Orient gelangt.

In Japan verlief die Entwicklung ähnlich wie in China. Nach ersten Kontakten mit den Portugiesen und Missionstätigkeit der Jesuiten kam es Anfang des 17. Jahrhunderts zur Konfrontation, die in der Ausrottung des Christentums und der Ausweisung aller Europäer gipfelte. Unter der Führung der Shogune wurde das Land neu geordnet und von 1637 bis 1854 von der Außenwelt streng abgeschlossen. Lediglich den Chinesen und Niederländern wurde ein sehr begrenzter Handel erlaubt, den die 1602 gegründete Niederländische Ostindienkompanie wahrnahm. Für Ihre Niederlassung wurde im Hafen von Nagasaki eine künstliche Insel geschaffen, die von der Leitung der Delegation nur einmal im Jahr – zur Überbringung der Steuern an den Hof in Edo – verlassen werden durfte. Trotz der strengen Abgrenzung gelang es drei botanisch interessierten Ärzten der Delegation – Engelbert Kaempfer, Peter Thunberg und Franz von Siebold – in dieser Zeit ein beachtliches Wissen über die Pflanzenwelt Japans zusammenzutragen und in Europa bekannt zu machen.

Die Ausstellung im Botanischen Garten widmet sich vor allem den aus Ostasien eingeführten Bäumen und Sträuchern, von denen viele aus unseren Gärten nicht mehr weg zu denken sind. Darunter sind Klassiker wie die Forsythie, Trendpflanzen wie die Bambus-Arten, kulturhistorisch bedeutende wie der Lackbaum, aber auch wenig bekannte Raritäten, die es lohnt, mit ihren Entdeckern, Sammlern und Beschreibern näher kennenzulernen.

Taschentuchbaum

Im April 1899 brach Ernest Henry Wilson im Auftrag der englischen Gärtnerei James Veitch & Son nach China auf, um neue Zierpflanzen für die heimischen Park- und Gartenanlagen zu sammeln. Sein Hauptaugenmerk sollte dabei dem Taschentuchbaum (Davidia involucrata) gelten, einem prachtvollen Baum, der drei Jahrzehnte zuvor von dem französischen Missionar und Naturforscher Abbé Pierre Armand David in der chinesischen Provinz Sichuan nahe der Grenze zu Tibet entdeckt worden war.

David hatte nach der erzwungenen Öffnung Chinas zwischen 1866 und 1873 drei Sammelreisen in den nordwestlichen Provinzen des Landes unternommen und als erster Europäer den großen Pandabären zu Gesicht bekommen. Seine herbarisierten Pflanzen schickte er zur Bearbeitung an das Naturkundemuseum in Paris. Dort wurde 1888 ein zweibändiges Werk mit seinen in China gesammelten Pflanzen herausgegeben, in dem der Taschentuchbaum farbig abgebildet und sein Fundort beschrieben war.

Im selben Jahr wurde der Taschentuchbaum von Augustine Henry ein zweites Mal entdeckt. Henry war im Dienste der chinesischen Zollbehörde, die seit 1857 von Briten geleitet wurde, am Jangtse in Zentralchina stationiert. Auf einer Expedition in die Gebirgsregionen Sichuans fand er einen einzelnen Taschentuchbaum und sammelte zum ersten Mal auch dessen Früchte. Henry schickte seine Pflanzen nach Kew, dem bedeutendsten Botanischen Garten Englands, wo sie untersucht und klassifiziert wurden.

Spätestens jetzt musste die Gärtnerei Veitch, die in langer Tradition „Pflanzenjäger“ in alle Teile der Welt geschickt hatte und gute Verbindungen zu den Botanikern in Kew unterhielt, auf diesen Baum aufmerksam geworden sein. Aber erst 1898 entschied man sich, einen Sammler nach Zentralchina zu entsenden. Die Wahl fiel auf den 23jährigen Ernest Henry Wilson, der am Botanischen Garten Birmingham eine Ausbildung zum Gärtner gemacht und gerade in Kew einen weiteren Kurs absolviert hatte. Wilson, der keinerlei Auslandserfahrung hatte, wurde bei Veitch & Son in sechs Monaten auf seine Mission vorbereitet.

Ernest Wilson reiste im April 1899 mit dem Schiff von Liverpool nach Nordamerika, durchquerte den Kontinent mit der Bahn und schiffte sich in San Francisco nach China ein. Wegen einer Seuche konnte er in Hongkong nicht an Land gehen und musste seine Reise nach Hanoi im heutigen Vietnam ohne Dolmetscher fortsetzen. Von dort gelangte er nach Yunnan, wo er mit Augustine Henry zusammentraf und eine skizzierte Karte mit dem Standort des von diesem in Sichuan gefundenen Taschentuchbaumes erhielt. Im April 1900 erreichte Wilson über Ichang in der Provinz Hubei endlich den auf der Karte markierten Punkt. Aber er musste feststellen, dass der Baum am beschriebenen Fundort inzwischen gefällt war. Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Zurück in der Provinz Hubei erkundete er die Umgebung der Stadt Ichang und entdeckte dabei eine Kletterpflanze mit essbaren Früchten, die uns heute als Kiwi (Actinidia chinensis) bekannt ist. Überraschend fand Wilson im Mai 1900 in dieser Region auch einen blühenden Taschentuchbaum.

Mit einer großen Anzahl Davidia-Samen und zahlreichen weiteren Pflanzen kehrte Wilson im April 1902 nach England zurück. Der große Erfolg der Reise wurde zunächst dadurch getrübt, dass die Samen nicht keimten und in der Zwischenzeit in Paris die Aufzucht eines Taschentuchbaumes gelungen war. Nach mehreren Monaten gelang es der Gärtnerei Veitch dann aber doch, Keimlinge in großer Zahl heranzuziehen. Ernest Wilson unternahm in den folgenden Jahren drei weitere Expeditionen nach China und zwei Reisen nach Japan. Er wurde, was die Einführung neuer Pflanzen in die Gartenkultur anbelangt, zum bedeutendsten Sammler für diese Region. Nach Abschluss seiner Sammeltätigkeit arbeitete Wilson am Arnold Arboretum der Harvard University in Massachusetts, dessen Leitung er 1927 übernahm. Nur drei Jahre später kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Texte und Konzeption: Ralf Omlor, 2002

Im Garden Explorer sehen Sie die Standorte des Taschentuchbaums im Botanischen Garten