Stiel-Lauch – Wilde Zier- und Nutzpflanze

Wer den Botanischen Garten seit seiner Öffnung am 11. Mai besucht hat, wird bemerkt haben, dass er anders wirkt als zuvor. Vielleicht ein wenig verwunschener oder sogar nachdenklicher? Auf jeden Fall ist er ruhiger: es sind mehr Vogelstimmen zu hören, dagegen keine Flugzeuge, keine Schulgruppen und auch kaum Maschinen, da an der Universität gegenwärtig nur sehr eingeschränkt gearbeitet werden darf. Dadurch ist der Garten natürlich auch wilder als sonst. Und in einigen Bereichen hat etwa das reduzierte Mähen durchaus seinen Reiz!

Nach dieser Einleitung kann nur das Porträt einer wilden, robusten Pflanze folgen, die keine gärtnerische Intensivpflege erfordert. Also aufgepasst, hier kommt eine Geschichte für den lazy gardener in uns allen!

Wer über den Hauptweg durch den Botanischen Garten schlendert und die große Laube durchquert, erreicht kurz vor den Beeten des Duftpflanzengartens eine besonders schöne Stelle des Gartens. Zunächst passiert man die hohen blaue Schwerlilien einer alten unbekannten Sorte, dann steht man im Halbschatten der alten Zierkirschen vor einem dichten Bestand eines Zierlauchs, dessen violette Blütenbälle sich zum Teil anderthalb Meter hoch über die Blätter der Funkien strecken. Ein stummes Feuerwerk der Gartenpracht, nur ein paar Bienchen summen. Wow, wie heißt diese Pflanze? Wo ist das Etikett?

Ja, das ist das Problem. Ein Etikett gab es an dieser Stelle nie, und wann dieser grandiose Zierlauch, der sich so leicht durch Samen selbst vermehrt, gepflanzt wurde, weiß auch niemand mehr. Er steht wohl seit Jahrzehnten an dieser Stelle. Also ein Bestimmungsbuch geschnappt, und los geht’s. Jetzt muss aber erwähnt werden, dass in der Gattung Allium, zu der diese Pflanze zweifellos gehört, heute rund 900 verschiedene Arten anerkannt werden. Ein Bestimmungsbuch mit allen diesen Arten gibt es nicht. Wir müssten wissen, in welchem Teil der Welt unser Zierlauch beheimatet ist, damit wir die Bestimmung eingrenzen können. Aber das wissen wir nicht. Bleibt uns zunächst nur die Annäherung mit einem Bestimmungsbuch für Gartenpflanzen, z.B. mit der sechsbändigen European Garden Flora oder mit dem Rothmaler Band 5: Exkursionsflora von Deutschland, krautige Zier- und Nutzpflanzen.

Beide Bestimmungsbücher helfen uns weiter und führen uns zu einem Komplex eng verwandter Allium-Arten, die vom Osten der Türkei bis Zentralasien und Pakistan beheimatet sind. Aber das Ergebnis ist nicht eindeutig: Allium aflatunense, A. hollandicum, A. stipitatum, A. hirtifolium, A. altissimum, A. jesdianum und vielleicht noch ein paar weitere kommen in Betracht. Auch eine in der Gartenkultur entstandene Kreuzung dieser Arten kann nicht ausgeschlossen werden. Wir wollen das jetzt aber genau wissen und ein für alle Mal klären! Also brauchen wir einen Spezialisten. Den finden wir in Reinhard Fritsch, der diese Allium-Gruppe am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben über viele Jahre erforscht hat. Mit seinen Publikationen und seiner Expertise gelingt es, unseren Zierlauch als Allium stipitatum (Stiel-Lauch) zu identifizieren.

Nun können wir weiter recherchieren: Der Stiel-Lauch ist eine sehr variable und recht weit verbreitete Pflanzenart. Sein Verbreitungsgebiet umfasst den Iran, Afghanistan, alle zentralasiatischen Republiken und Pakistan. Er kommt in mittleren Höhenlagen auf lehmigen Steppe-Hängen zwischen Bäumen und Sträuchern, im Schatten großer Bäume und auf nährstoffreichen Ruderalstellen vor. Diese breite Amplitude ist die Grundlage seines Erfolgs als Gartenpflanze. Je nach Qualität des Bodens schwankt seine Größe dann auch bei uns zwischen etwa 40 und 150 cm. Eines der sichersten Merkmale zur Unterscheidung von den oben genannten eng verwandten Arten ist der völlig glatte und runde, wie poliert glänzende Schaft des Blütenstands. Hinzu kommt meist auch eine Behaarung der Blätter. Die Vermehrung erfolgt durch Samen und vegetativ durch die Aufspaltung der Zwiebeln sowie durch kurze Ausläufer, an deren Enden Tochterzwiebeln entstehen. Die Keimung der Samen erfolgt bei kühlen Temperaturen (etwa 5° C).

Der Stiel-Lauch wird in seiner Heimat als Zierpflanze, als Arzneipflanze und als Gemüsepflanze genutzt. Dafür werden allerdings nur die noch nicht voll entwickelten jungen Zwiebeln verwendet und beispielsweise in Essig eingelegt oder gehackt und mit Joghurt gemischt. Als Zierpflanze hat der Stiel-Lauch in Europa nur eine junge Geschichte. Zwar wurde er bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben und in Botanischen Gärten kultiviert, aber erst ab den 1950er Jahren begann man sein Potential zunächst als Schnittblume und schließlich auch als Highlight in Staudenpflanzungen zu erkennen. Die britische Royal Horticultural Society verlieh dem Stiel-Lauch dann 1958 auch einen Award of Merit. Von allen hohen Zierlauch-Arten im Handel ist er zweifellos der robusteste. Er gedeiht auf fast allen Böden und ist in Mitteleuropa vollständig winterhart.

Ach ja, Reinhard Fritsch schrieb uns noch „Allium stipitatum wird auf nährstoffreichem Gartenboden schnell zu einem Unkraut, lässt sich durch Weghacken der Keimpflanzen aber wirkungsvoll regulieren“ – ein Hinweis, der für den lazy gardener noch nützlich werden könnte!

Literatur

Encke, F. (1958). Pareys Blumengärtnerei. Beschreibung, Kultur und Verwendung der gesamten gärtnerischen Schmuckpflanzen, Band 1: 258-260. Paul Parey, Berlin und Hamburg.

Fritsch, R.M. (2015). Checklist of ornamental Allium species and cultivars currently offered in the trade. IPK Gatersleben.

Fritsch, R.M. & M. Abbasi (2013). A Taxonomic Review of Allium subg. Melanocrommyum in Iran. IPK Gatersleben.

Jäger, E.J., F. Ebel, P. Hanelt & G.K. Müller (2008). Rothmaler. Exkursionsflora von Deutschland, Band 5. Krautige Zier- und Nutzpflanzen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg.

Stearn, W.T. & E. Campbell (1986). Allium. In: Walters, S.M., A. Brady, C.D. Brickell, J. Cullen, P.S. Green, J. Lewis, V.A. Matthews, D.A. Webb, P.F. Yeo & J.C.M. Alexander (eds.), The European Garden Flora, Vol. I: 233-246. Cambridge University Press.

Link zum Garden Explorer: Den Stiel-Lauch im Botanischen Garten finden

Text und Fotos: Ralf Omlor

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