Im Jahr 2002 hatten wir im Botanischen Garten eine Ausstellung mit dem Titel „Die Suche nach dem Taschentuchbaum“. Es ging dabei um die Geschichte der aus China und Japan bei uns eingeführten Bäume und Sträucher, die eine immense Bedeutung als Zierpflanzen haben. Der Botanische Garten war damals in der Öffentlichkeit noch kaum bekannt. Um auf die Ausstellung aufmerksam zu machen, hatten wir eine Rosskastanie vor unserem Eingang mit weißen Stofftaschentüchern behängt. Das führte allerdings zu Missverständnissen, die zum Teil bis heute bestehen, wenn wir vom Taschentuchbaum (Davidia involucrata) sprechen.
Der Chinesische Tulpenbaum, um den es in diesem Bericht an erster Stelle geht, passt nicht nur deshalb gut zu dieser Geschichte, weil man sich ganz nett einen Dingsdabums-Baum mit hineindrapierten Tulpen vorstellen kann. Sondern auch weil beide Baumarten von derselben Person und zum gleichen Zeitpunkt nach Europa eingeführt wurden. Und das sind noch lange nicht alle Gemeinsamkeiten. Aber der Reihe nach.
Vor einigen Tagen hatten wir den Eindruck, dass der 2006 im Botanischen Garten gepflanzte Chinesische Tulpenbaum in diesem Jahr erstmals blühen könnte. Ein guter Anlass also, über diesen in Mitteleuropa nur sehr selten gepflanzten Baum etwas genauer zu recherchieren. Die Tulpenbäume (Gattung Liriodendron) gehören zur Familie der Magnoliengewächse und gelten als Relikte des Tertiärs (heute korrekter des Paläogens und des Neogens), einer Epoche der Erdgeschichte, die vor etwa 66 Mio. Jahren nach dem letzten großen Artensterben begann und mit dem Beginn der Eiszeiten vor etwa 2,6 Mio. Jahren endete. Das Klima war fast durchgehend wärmer als heute, und es entwickelte sich das Fundament unserer heutigen Tier- und Pflanzenwelt. Tulpenbäume waren im Tertiär auf der Nordhalbkugel mit mehreren Arten verbreitet. Heute gibt es noch zwei Arten, die sich nur geringfügig voneinander unterscheiden: den Amerikanischen Tulpenbaum (Liriodendron tulipifera) und den Chinesischen Tulpenbaum (L. chinense).
Über dieses eng verwandte Artenpaar wird viel geforscht. Es ist ein klassisches Beispiel für Verwandtschaftsgruppen, die ein unterbrochenes (disjunktes) Verbreitungsgebiet im Osten Nordamerikas und in Ostasien zeigen. Beide Regionen waren in den Eiszeiten Refugialgebiete, in denen sich viele Pflanzenarten erhalten haben, die in Europa ausgestorben sind. Man geht davon aus, dass die Tulpenbäume im Tertiär von Europa über Asien und die Beringstraße bis nach Nordamerika verbreitet waren. Das ist durch Fossilien gut belegt. In den Eiszeiten wurde der Amerikanische Tulpenbaum in sein heutiges Verbreitungsgebiet im Osten Nordamerikas abgedrängt, während sich das Areal des Chinesischen Tulpenbaums nach Süden in das Refugialgebiet des Jangtse-Beckens verlagerte. Beide Arten bewohnen heute feuchte Laubmischwälder der warm gemäßigten bis subtropischen Zone. Während der Amerikanische Tulpenbaum in seiner Heimat recht häufig ist, gilt der Chinesische Tulpenbaum als annähernd gefährdet. Er kommt fast nur noch in kleinen Restpopulationen vor und bildet auch in seiner Heimat meist nur wenige Samen aus. An einigen Standorten, etwa in Bergwäldern im Südosten der Provinz Sichuan, kommen der Chinesische Tulpenbaum und der Taschentuchbaum nebeneinander vor. Auch der Taschentuchbaum ist ein Tertiärrelikt.
In Europa ist nur der Amerikanische Tulpenbaum in Gärten und Parks häufig zu sehen. Er ist nicht besonders anspruchsvoll, bevorzugt aber warme und feuchte Standorte. In England gibt es Exemplare, die bis ins 17 Jh. zurück reichen, und auch in Deutschland stehen große Tulpenbäume, die mehr als 250 Jahre alt sind, über 30 Meter hoch und einen Stammumfang von mehr als fünf Meter erreicht haben. Vom Amerikanischen Tulpenbaum gibt es sogar selektierte Gartenzüchtungen, etwa eine Säulenform, Liriodendron tulipifera 'Fastigiata‘, die 2018 bei der Neugestaltung der Bahnhofstraße in Mainz gepflanzt wurde.
Ganz anders steht es um den Chinesischen Tulpenbaum. Er ist viel heikler in der Kultur und daher in Mitteleuropa noch immer sehr selten. Im Handel ist er erst seit einigen Jahren gelegentlich zu bekommen. Seine Ersteinführung nach Europa erfolgte 1901 durch den „Pflanzenjäger“ Ernest Henry Wilson, den wir im Rahmen der Ausstellung zum Taschentuchbaum ausführlich vorgestellt haben. Aus dieser ersten Einführung sind in England und Irland noch etwa zehn Exemplare des Chinesischen Tulpenbaumes dokumentiert. Danach sind weitere Aufsammlungen offenbar erst ab 1977 wieder in den Westen gekommen.
Kann man das Exemplar im Botanischen Garten auf so eine dokumentierte Aufsammlung zurückverfolgen? Das haben wir uns auch gefragt und haben nachgeforscht. Bisher allerdings ohne das erhoffte, klare Ergebnis: Den Chinesischen Tulpenbaum kann man schlecht aus Samen ziehen, weil man schlicht kaum frisches, keimfähiges Saatgut bekommen kann. Also haben wir das Exemplar des Botanischen Gartens 2004 von der niederländischen Baumschule Plantentuin Esveld in Boskoop gekauft. Dort konnte man uns nun mitteilen, dass es sich um eine Veredlung handelt, die Rein Bulk in Boskoop auf Basis einer Mutterpflanze der Baumschule Esveld durchgeführt hat.
Tulpenbäume werden bevorzugt durch eine als Kopulation bezeichnete Technik veredelt. Dabei wird ein einjähriger, unverzweigter Trieb (ein sogenanntes Reis oder Pfropfreis) der Mutterpflanze schräg angeschnitten und auf die etwa gleich dicke Unterlage eines getopften Amerikanischen Tulpenbaums veredelt. Der Amerikanische Tulpenbaum wird dafür dicht über der Wurzel ebenfalls schräg abgeschnitten. Die passgenauen Schnittstellen des Reises und der Unterlage werden zusammengepresst, mit Baumwachs versiegelt und zusammengebunden. Fertig. Das Ganze wird am Ende der winterlichen Ruhephase gemacht. Wächst es an, hat man einen eigentlich heiklen Chinesischen Tulpenbaum auf dem robusten Wurzelstock eines Amerikanischen Tulpenbaums und kann ihn nun fast auf jedem Boden pflanzen. Wenn man es weiß, kann man die Veredelungsstelle auch an der Stammbasis unseres Exemplars noch sehen.
Die Herkunft der Mutterpflanze in Esveld, von der unser Exemplar abstammt, ist leider undokumentiert. Sie kam aber „möglicherweise“, so die Firma Esveld, von der traditionsreichen Baumschule Hillier bei Southampton im Süden Englands. Und diese kann ihren Baum direkt oder indirekt wohl nur von der Erstaufsammlung Wilsons erhalten haben. Wenn sich diese Kette bestätigen lässt, wäre also auch das Exemplar im Botanischen Garten auf die Ersteinführung Wilsons zurückführen. Wilson hatte Samen des Chinesischen Tulpenbaums im Jahr 1900 in der Provinz Hubei gesammelt und 1901 nach England gebracht. Die damals noch ausgedehnten Bestände des Chinesischen Tulpenbaums in der Provinz Hubei sind durch Abholzung und Gewinnung von Ackerland bis auf kleine Restpopulationen verschwunden. Wo genau Wilson seine ersten Tulpenbäume gesammelt hat, ist allerdings nicht bekannt.
Ist ja ganz interessant, aber was ist jetzt mit den Blüten des Chinesischen Tulpenbaums im Botanischen Garten? Kann man sie sich schon anschauen? Äh, nein. Er wird in diesem Jahr doch noch nicht blühen, die auffälligen Knospen enthielten wieder nur Blätter. Das ist übrigens noch eine Gemeinsamkeit mit dem Taschentuchbaum. Auch der hat im Ausstellungsjahr 2002 nicht blühen wollen. Vielleicht haben deshalb viele Besucher die Rosskastanie mit den Stofftaschentüchern für den wahren Taschentuchbaum gehalten.
Wenn Sie jetzt einen blühenden Tulpenbaum sehen möchten, können Sie sich den Amerikanischen ansehen. Seine Blüten sind ohnehin etwas größer und farbiger als die des Chinesischen Tulpenbaums.
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Literatur
Chen, J., Z. Hao, X. Guang, C. Zhao, P. Wang, L. Xue, Q. Zhu, L. Yang, Y. Sheng, Y. Zhou, H. Xu, H. Xie, X. Long, J. Zhang, Z. Wang, M. Shi, Y. Lu, S. Liu, L. guan, Q. Zhu, L. Yang, S. Ge, T. Cheng, T. Laux, Q. Gao, Y. Peng, N. Liu, S. Yang & J. Shi (2018). Liriodendron genome sheds light on angiosperm phylogeny and species-pair differentiation. Nature Plants Vol. 5: 18-25.
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Tang, C.Q., Y. Yang, M. Ohsawa, A. Momohara, J. Mu & K. Robertson (2012). Survival of a tertiary relict species, Liriodendron chinense (Magnoliaceae), in Southern China, with special reference to village Fengshui forests. American Journal of Botany Vol. 100: 2112-2119.
Dank
Ein herzliches Dankeschön an Siegfried Gand, den Leiter des Arboretums im Mainzer Botanischen Garten, an Birgit Vertoep von Plantentuin Esveld und an Renate Krebs von Sunshine-Seeds, die die Recherchen zum Chinesischen Tulpenbaum mit wertvollen Literaturtipps und wichtigen Informationen zur Vermehrung und Verfügbarkeit von Saatgut unterstützt haben.
Text und Fotos: Ralf Omlor, 28.05.2020