Bis zu diesem Beitrag war sie nicht einmal inventarisiert. Zu unbedeutend für den wissenschaftlich dokumentierten Pflanzenbestand eines Botanischen Gartens mit all seinen Raritäten. Natürlich kennt sie jeder, aber niemand kann mehr sagen, wie lange sie schon da ist und vor allem, wann sie es geschafft hat, sich auch im Freien fest zu etablieren. Es geht um die Kletter-Feige, Ficus pumila L., eine kriechende oder kletternde Pflanze mit kleinen, zarten, herzförmigen Blättern, die im östlichen Asien von Myanmar bis Japan beheimatet ist. Bei uns findet man sie in fast jedem Blumenladen als anspruchslose Ampelpflanze, die sich leicht bewurzeln und vermehren lässt. Zimmergrün für Anfänger.
In Botanischen Gärten wächst sie fast immer irgendwo in einem kühleren Gewächshaus an einer schattigen, feuchten Stelle als Wandbegrünung. Nicht unattraktiv, Blüten aber Fehlanzeige. Im Mainzer Botanischen Garten gedeiht sie großartig in einem feucht-kühlen Orchideengewächshaus, das wie eine Souterrainwohnung an den Heizungskeller unter dem Tropengewächshaus angrenzt und nur durch ein schräges Gewächshausdach von oben ein wenig Licht bekommt. Für Besucher ist es leider nicht zugänglich. Es beherbergt einige seltene Schattenfarne, vor allem aber Orchideen aus kühlen tropischen Bergnebelwäldern. Durch die Kletter-Feige, die die Wände rundum bedeckt, ist das ganze Gewächshaus eine lebendige grüne Grotte.
Aus dieser unterirdischen Grotte befreite sich die Kletter-Feige schon vor längerer Zeit, um auch den schräg darüber liegenden Arbeitsraum üppig zu begrünen. Doch damit nicht genug, durch irgendeinen Spalt oder einen Lüftungsschacht des Orchideenkellers ist sie auch an die Außenseite des Gebäudes gelangt. Dort wahrscheinlich mehrmals in kalten Wintern zurückgefroren, aber über die Jahre immer kräftiger geworden. Im Oktober 2020 viel nun erstmals auf, dass sie an den viel kräftigeren Trieben im Freien die typischen Feigenfrüchte trägt. Wie ist das möglich?
Man kann die Kletter-Feige ganz gut mit unserem heimischen Efeu vergleichen. Wie der Efeu kennt auch die Kletter-Feige eine Jugendform und eine deutlich anders aussehende Altersform. Beim Efeu verändert sich in der Altersform die Form der Blätter, und die Triebe bilden keine Haftwurzeln mehr, sondern wachsen aufrecht. Erst in dieser Form beginnt der Efeu zu blühen. Von der Kletter-Feige kennen wir in Mitteleuropa fast alle nur die Jugendform mit ihren fadenförmigen Trieben als Zimmerpflanze. Die Triebe der Jugendform können sich durch ein klebriges Milchsaftsekret an der Wand anheften und bewurzeln. Ihre Blätter sind klein und zart. Erreicht die Kletter-Feige nach einigen Jahren eine beachtliche Größe, kann sie in die Altersform übergehen. Die Blätter werden dann deutlich größer und fester, und an den verholzten Trieben entstehen abstehende Zweige, die dann auch die typischen Feigen-Früchte bilden.
In subtropischen und mediterranen Regionen kann die Kletter-Feige zur Fassadenbegrünung oder als Bestandteil vertikaler Gärten genutzt werden. Auch im milden Süden Englands ist die Kletter-Feige seit langem zur Bepflanzung von Außenwänden bekannt. Entsprechend wird sie der Winterhärtezone 9 zugeordnet. Dor liegt die mittlere jährliche Minimumtemperatur zwischen -6,6°C und -1,2°C. Bei uns in Mainz lag dieser Mittelwert über die vergangenen 10 Jahre bei -8,9°C, also nicht mehr allzu weit davon entfernt. Man kann also daran denken, den aufdringliche Efeu von der Hauswand zu entfernen und durch die exotischer Kletter-Feige zu ersetzen. Freiheit für die Zimmerpflanzen! Wir werden es im Botanischen Garten demnächst an verschiedenen Stellen testen. Eine neue Obstkultur ist davon aber nicht zu erwarten, auch wenn die Früchte in Ostasien zum Teil zu Süßigkeiten verarbeitet werden. Bei uns vertrocknen die Feigen dieser Art nach einiger Zeit, denn es fehlt die entsprechende Gallwespe, die die winzigen Blüten im Innern der Feigen bestäuben könnte.
Text und Fotos: Ralf Omlor, 09.10.2020
Feigen im Außenbereich des Mainzer Botanischen Gartens
Echte Feige (Ficus carica) in der Biologischen Abteilung
Afghanische Feige (Ficus johannis subsp. afghanistanica) im Eingangsbereich
Kletter-Feige (Ficus pumila) im Gewächshausbereich (nicht öffentlich)
Ficus erecta im Arboretum (Feld 7a - Japan)