Cheirolophus – die App hätte es natürlich gleich gewusst

Auch Experten fällt es nicht immer leicht, unbekannte Pflanzen sicher zu bestimmen. Zum Glück gibt es dafür inzwischen digitale Hilfsmittel - die man dann aber auch richtig einsetzen muss. Ein Beispiel: Vor kurzem ist uns im Alpinum des Botanischen Gartens eine Pflanze aufgefallen, die sich in der Anlage ausgebreitet hat, aber offensichtlich nicht richtig bestimmt war. Gekommen war die Pflanze bereits 2003 als Saatgut aus einem Botanischen Garten in Portugal unter dem Namen Centaurea triumfettii (Bunte Flockenblume). Ursprünglich gesammelt war das Saatgut an der portugiesischen Küste, etwa 80 km nördlich von Lissabon.

Im Botanischen Garten Mainz erhielt die vermeintliche Flockenblume nach erfolgreicher Anzucht einen unauffälligen Standort im Alpinum, an dem sie ganz offensichtlich nicht genügend beachtet worden ist. Das kann vorkommen in einem Garten mit rund 8.000 verschiedenen Pflanzenarten und jährlich mehreren Hundert Neuzugängen. Nun fiel sie aber plötzlich in einem anderen Teil des Alpinums direkt an der Straße auf. Eine schöne, sehr große und reichblütige „Flockenblume“, aber sicher nicht Centaurea triumfettii. Irgendwas muss schief gegangen sein. Entweder war die Pflanze schon beim Sammeln in Portugal nicht richtig bestimmt worden, oder es wurde später etwas verwechselt.

Nun ist die Bestimmung von Flockenblumen (Gattung Centaurea L.) nicht ganz einfach. Diese Pflanzengruppe, die man an den auffälligen, gefransten oder bestachelten Spitzen der Hüllblätter an den Blütenköpfen eigentlich gut ansprechen kann, umfasst je nach Gattungskonzept etwa 250 oder bis zu 800 Arten. Die meisten Arten gibt es im Mittelmeergebiet und im südwestlichen Asien, das Verbreitungsgebiet umfasst aber auch Afrika, Indien, Nordeuropa und reicht bis nach Ostasien. Geht man davon aus, dass es tatsächlich eine Pflanze aus Portugal ist, müsste man die Art mit dem wichtigsten europäischen Standardwerk, der Flora Europaea bestimmen können. Doch das gelang nicht. Auch bei alternativen Bewertungen wichtiger Merkmale im Bestimmungsschlüssel ergab sich kein passendes Ergebnis. Also doch keine europäische Pflanze? Dann vielleicht aus der Türkei oder dem Kaukasus? Offenbar auch nicht. Bestimmungsversuche mit der Flora of Turkey oder der schon etwas älteren, vielbändigen Flora of the U.S.S.R. (Sowjetunion) verliefen genauso erfolglos.

Der Bestimmungsversuch mit klassischen Florenwerken hatte inklusive der genauen Untersuchung der Blütenmerkmale nun schon etwa drei Stunden in Anspruch genommen. Und kein Ergebnis. Was war hier los? Es dämmerte allmählich, dass die Grundannahme, es handele sich um eine echte Flockenblume, trotz vieler typischer Merkmale offenbar falsch war. Den entscheidenden Hinweis lieferte dann die Pflanzenbestimmungs-App PlantNet. Ein einziges Foto der Blüten unserer Pflanze genügte, um innerhalb weniger Sekunden mit einer Wahrscheinlichkeitsangabe von 73 % den Namen Cheirolophus sempervirens vorgeschlagen zu bekommen.

Cheirolophus? Offenbar. Cheirolophus ist eine eng mit den Flockenblumen verwandte Pflanzengattung mit etwa 27 Arten im westlichen Mittelmeergebiet und auf den Kanarischen Inseln. Im Botanischen Garten hat es eine Art dieser Gattung noch nicht gegeben. Zumindest ist keine dokumentiert. Die Überprüfung des vorgeschlagenen Namens mit der Flora Iberica bestätigte den Vorschlag der App eindeutig. Cheirolophus sempervirens kommt im Südwesten der iberischen Halbinsel, vor allem in einem schmalen Streifen entlang der portugiesischen Küste vor. Weitere Populationen gibt es an der Südspitze Spaniens und in Norden Algeriens. Dass diese wärmebedürftige Pflanze aus einer maritim geprägten Küstenregion am Mittelmeer in Mainz so gut wächst, ist erstaunlich. Sie hat im Alpinum aber auch einen sehr sonnigen und gut bewässerten Standort und erhält im Winter eine schützende Abdeckung aus Tannenzweigen.

Aber wie ist das möglich, dass die App mit einem einzigen Foto so schnell das richtige Ergebnis liefert? Cheirolophus-Arten sind im Unterschied zu den Centaurea-Arten Halbsträucher, haben also einen verholzenden basalen Stock. Es gibt noch weitere kleine Unterschiede zwischen beiden Gattungen im Bau der Frucht und in den Pollenmerkmalen, die aber schwer zu beobachten sind. Die App hat keines dieser wichtigen Unterscheidungsmerkmale zur Verfügung gehabt. Das Foto zeigte lediglich ein einzelnes Blütenköpfchen in Seitenansicht. Moderne Pflanzenbestimmungs-Apps müssen also ganz anders arbeiten als unsere klassischen Bestimmungsschlüssel, in denen Merkmale einzeln abgefragt werden und man sich jeweils für eine von zwei Alternativen entscheiden muss. Nach zahlreichen Bestimmungsschritten kommt man dann am Ende zu einem Ergebnis.

Die modernen Bestimmungs-Apps arbeiten dagegen ohne die Analyse und Bewertung von Einzelmerkmalen. Sie nutzen ein Verfahren der künstlichen Intelligenz, das die Erkennung mittels künstlicher neuronaler Netze zunächst an Hunderten von Einzelfotos der jeweiligen Arten trainiert. Dieses selbstlernende Training (Deep Learning) an großen Bilddatenbanken mit sicher bestimmten Pflanzenfotos ist die Grundlage für spätere Nutzung. Entsprechend kann die jeweilige App auch immer nur die Arten erkennen, auf die sie trainiert ist. Durch die Einbeziehung sicher verifizierter Nutzerfotos wird die Bilddatenbank mit der Zeit immer größer und die Trefferquote wird immer besser. Die Verifizierung der Nutzerfotos ist dabei der entscheidende Schritt. Sie erfolgt bei vielen dieser Apps weiterhin durch Experten in der Nutzercommunity der App.

Sehr gute kostenfreie Bestimmungs-Apps, bei denen man sich auch nicht zwingend mit einem eigenen Account anmelden muss, sind für Deutschland Flora Incognita und für Westeuropa und weitere Regionen vor allem Plant Net. Es gibt aber zahlreiche weitere. Wer sich intensiver mit Naturbeobachtung und Artenbestimmung beschäftigt, für den ist auch iNaturalist eine interessante Option. Werden diese Apps die klassischen Bestimmungsbücher und Florenwerke verdrängen? Danach sieht es im Moment nicht aus. Die Bearbeitungen in den großen Florenwerken sind die Grundlage für die Verifizierung der Trainingsfotos, mit denen die KI der Apps dann selbständig ihre Erkennungsmuster einübt. Das sie ein extrem effizientes Hilfsmittel darstellen, steht außer Frage. Spätestens jetzt auch für uns.

Literatur

Susanna, A., T. Garnatje & N. Garcia-Jacas (1999). Molecular phylogeny of Cheirolophus (Asteraceae-Centaureinae) based on ITS sequences of nuclear ribosomal DNA. Pl. Syst. Evol. 214: 147-160.

Vitales, D., A. García-Fernández, T. Garnatje, J. Pellicer & J. Vallès (2016). Phylogeographic insights of the lowland species Cheirolophus sempervirens in the southwestern Iberian Peninsula. J. Syst. Evol. 54(1): 65-74.

Wäldchen, J. & P. Mäder (2019). Flora Incognita – wie künstliche Intelligenz die Pflanzenbestimmung revolutioniert. Biol. Unserer Zeit 49: 99-101.

LinksPlantNet, Flora Incognita, iNaturalist

Cheirolophus mit dem GardenExplorer im Botanischen Garten finden!

Text und Foto: Ralf Omlor | 08.07.2022

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