Vor knapp einem Jahr, am 29. April 2024, war der große Argentinische 'Cardón grande' Kaktus in einer aufwändigen Aktion - der "Operation Nashorn" - durch das Dach des alten Gewächshauses gehievt worden. Er sollte wenige Wochen zwischengelagert werden, damit die beim Ausgraben entstandenen Wurzelverletzungen abheilen können, und sollte dann in eines der beiden neuen Gewächshäuser gepflanzt werden. Doch es kam anders. Die Fertigstellung der neuen Gewächshäusern verzögerte sich, und der 'Cardón grande' musste bis Ende Oktober 2024, als Mumie verpackt, in der Krankenstation liegend auf seine Neupflanzung warten. Wie ist es ihm seither ergangen? Wir haben viele Nachfragen zu seinem Zustand erhalten.
Einzug ins neue Gewächshaus am 29. Oktober 2024.
Bereits in der Krankenstation hatte er viel Besuch erhalten. Wann sieht man schon mal einen entwurzelten Riesenkaktus so aus der Nähe. Wobei, viel sehen konnte man natürlich nicht. Er musste eingepackt bleiben, um die langen Dornen nicht zu beschädigen. Nur der untere Teil des Stamms mit den wenigen erhaltenen Wurzeln ragte heraus. Das alles wirkte bedrohlich, als würde man sich einem betäubten Nashorn nähern. Natürlich machten wir uns Sorgen um ihn, denn man konnte jetzt nichts für ihn tun. Nur warten. Lange warten. Genau sechs Monate, bis zum 29. Oktober 2024. Er hatte nun schon ein Jahr lang kein Wasser mehr bekommen, denn im Winter vor seiner Bergung aus dem alten Gewächshaus war er wie üblich auch nicht mehr gegossen worden.
Der Transport ins neue Gewächshaus und die Aufstellung verliefen problemlos. Dann wurde er mit vier Holzbohlen provisorisch abgestützt und vorsichtig ausgepackt. Es gab ein paar kleine Überraschungen, müde Wespen und die Überreste eines Mäusenests in der Dämmwolle, aber zur großen Erleichterung keine Schäden durch die lange, liegende Lagerung. Er wirkte ein wenig, na ja, wie nach einer langen Fastenkur.
Nun hieß es abwarten. Der Zeitpunkt der Pflanzung war so kurz vor dem Winter nicht ideal. Wenn die Tage kürzer werden und das Licht weniger, gehen die Pflanzen in ihre Ruhephase. Mit einem schnellen Anwachsen war jetzt nicht mehr zu rechnen. Und wenn kein Wachstum zu erwarten ist, kann man auch nicht gießen, zu groß wäre die Gefahr, dass an den wenigen Wurzeln Fäulnis entsteht. Erneut konnte man also nichts weiter für ihn tun. Nur warten. Und hoffen. Weitere vier Monate. Doch schon im Januar begann die Krise: der 'Cardón grande' wurde zunehmend blasser und begann sich leicht zur Seite zu neigen. Entsetzen griff um sich. Es musste etwas getan werden, aber was?
Dann kam Hilfe. Am 31. Januar 2025 wurden unsere vor zwei Jahren auf den Kanarischen Inseln bestellten Großpflanzen für die neuen Gewächshäuser durch die Kakteengärtnerei Uhlig aus Kernen bei Stuttgart geliefert. Matthias Uhlig, einer der erfahrensten Kakteenkultivateure, begutachtete unseren 'Cardón grande' und wusste Rat. Er empfahl, einen speziellen, aminosäurehaltigen Flüssigdünger auf die Oberfläche aufzusprühen. Solche Dünger werden für den Obst- und Gemüsebau entwickelt, um gestresste Pflanzen zu stärken. Der aufgesprühte Spezialdünger wird über die Blätter aufgenommen, und die im Dünger enthaltenen Aminosäuren können in der Pflanze direkt als Bausteine für Eiweiße, Enzyme, Pflanzenhormone und für den grünen Blattfarbstoff Chlorophyll verwendet werden. Wurzelentwicklung und Zellteilung werden gefördert, die ganze Pflanze revitalisiert.
Aber kann das auch bei einem Kaktus funktionieren, der keine Blätter hat und dessen Oberfläche einen hohen Verdunstungsschutz aufweist, somit auch nur wenig von außen nach innen durchlassen sollte? Egal, ein Versuch konnte nicht schaden. Bis Mitte März erhielt unser 'Cardón grande' wöchentlich sein Stärkungsmittel aufgesprüht. Und es zeigte Wirkung. Die dunkelgrüne Färbung kehrte allmählich zurück. Auch die zwischenzeitlich mit einem Seil gerade gezogene Spitze stabilisierte sich. Und dann, Ende März, blühte er. Das waren dann vielleicht doch ein paar Hormone zu viel. Normalerweise blüht diese Kakteenart bei uns erst im Spätsommer.
Nun ist es Mitte April 2025. Ein Jahr ist vergangen seit der aufwendigen Operation Nashorn. Wir sehen den großen 'Cardón grande' nun in seinem neuen Beet, umgeben von weiteren Pflanzenarten aus seiner Heimat im Nordwesten Argentiniens. Ob er sich wohlfühlt in seiner neuen Umgebung? Wir hoffen es. Die ganze Aktion hat für den temporären Dachumbau des alten Gewächshauses, die Miete des großen Kranwagens und den Kauf von Dämmmaterial für die Verpackung fast 9.000 Euro an Spendengeldern verschlungen. Hätte man dafür nicht auch einen neuen großen Kaktus dieser Art kaufen können? Nein. Große Exemplare dieser Art sind nicht im Handel. Sie sind aufgrund ihrer langen Dornen viel zu schwierig in der Handhabung.
Außerdem hat unser großer 'Cardón grande' schon eine jahrzehntelange Geschichte. Viele kennen ihn seit Jahren und verfolgen, wie er sich langsam entwickelt, Seitentriebe bildet, blüht, vielleicht irgendwann mal Früchte bilden wird. Und genau dafür steht er hier. Um Interesse und Begeisterung für das geheimnisvolle Leben der Pflanzen, für ihre grundlegende Bedeutung in der Natur und letztlich auch für uns Menschen zu wecken. Bei jungen Menschen, Studierenden, angehenden Forscherinnen und Forschern in den Pflanzenwissenschaften und bei allen Besucherinnen und Besuchern. Dafür, denken wir, hat sich der Aufwand gelohnt.
Text und Fotos: Ralf Omlor | 16.04.2025