Calanthe-Orchideen – Traditioneller Weihnachtsgruß aus dem Botanischen Garten

Blühende Pflanzen in der dunklen, oft nasskalten Advents- und Weihnachtszeit waren immer etwas Besonderes. Aber noch vor wenigen Jahrzehnten war das Angebot sehr überschaubar. Christrose, klar, Alpenveilchen, Amaryllis, Weihnachtsstern und Weihnachtskaktus. Dazu noch ein paar Barbarazweige. Das war’s im Wesentlichen. Auch das Sortiment an Schnittblumen war im Winter ziemlich begrenzt. Erst durch die Globalisierung des Blumenhandels, die Produktion von Schnittblumen und Zimmerpflanzen in tropischen Ländern und kurzen Transportzeiten im Flugzeug, ist das Angebot sehr viel breiter geworden. Hinzu kamen Fortschritte in der Pflanzenzüchtung und höhere Temperaturen in den Wohnräumen, die neue Möglichkeiten eröffneten.

Durch die Ausweitung des Sortiments sind allerdings auch klassische Angebote verschwunden. Den Weihnachtstern (Euphorbia pulcherrima) gab es zum Beispiel bis in die 1960er Jahre praktisch nur als Schnittblume. Erst danach setzte sich seine Vermarktung als Topfpflanze langsam durch. Und auch Orchideen waren zunächst nur als Schnittblumen erhältlich. Das spielt zwar auch heute noch eine bedeutende Rolle, allerdings hat sich das Artenspektrum verändert. So sind etwa die filigranen, früher sehr beliebten Blütenstände von Calanthe-Orchideen durch größer blühende und farbigere Phalaenopsis- oder Dendrobium-Orchideen verdrängt worden.

Dabei sind die Calanthe-Orchideen, die für die Schnittblumengewinnung verwendet wurden, auch gartenhistorisch sehr interessant. Insgesamt umfasst die Gattung Calanthe etwa 200 Arten mit einem Verbreitungsschwerpunkt von Indien bis Australien und einigen wenigen Vertretern im tropischen Afrika, in Madagaskar und in Mittelamerika. In Kultur ist nur etwa ein Dutzend dieser Arten. Einige davon sind immergrüne, epiphytische Regenwaldbewohner, wie die Weihnachts-Orchidee Calanthe triplicata. Sie ist von Indien bis Queensland beheimatet. Von dort gelangte sie offenbar bereits 1822 als Zierpflanze nach England, was nur möglich war, weil diese Orchideen eine Art Speicherknolle – eine Pseudobulbe – an der Stammbasis bilden, die es ihnen erlaubt, Trockenphasen zu überdauern. So konnte diese Calanthe bereits vor der Einführung der berühmten Wardtschen Kästen in den 1830er Jahren die lange Schiffsreise nach Europa überstehen.

Heute spielt Calanthe triplicata in der Kultur keine große Rolle mehr. Sie wurde aber berühmt, weil sie eine der Elternarten war, mit der die erste Kreuzung zwischen zwei Orchideen Arten in der westlichen Kultur gelang (in Japan bereits im 18 Jh). Dieses Kunststück glückte dem britischen Gärtner John Dominy in den 1850er Jahren. Seine Orchideen-Kreuzung aus einer Calanthe masuca und einer Calanthe triplicata blühte erstmals 1856 und erhielt ihm zu Ehren den Namen Calanthe × dominyi. Das bemerkenswerte an Dominys Erfolg war nicht nur, dass ihm mit der Übertragung der Pollenpakete die Hybridisierung von zwei verschiedenen Orchideen-Arten gelang, sondern anschließend auch die Anzucht neuer Pflanzen aus den Samen dieser Hybride. Denn die Vermehrung von Orchideen aus Samen ist äußerst schwierig. Die staubfeinen Samen enthalten praktisch kein Nährgewebe und sind bei der Keimung auf die symbiotische Unterstützung bestimmter Pilzarten angewiesen.

Das war aber um 1850 noch lange nicht erforscht. Es wurden alle möglichen Tricks ausprobiert, und auch kleinste Erfolge wurden in neu aufkommenden Gartenzeitschriften wie The Gardener‘s Chronicle veröffentlicht. Viele der frühen, oft bescheidenen Keimungserfolge basierten darauf, dass in dem verwendeten Pflanzsubstrat das erforderliche Pilzmyzel noch von früheren Orchideen enthalten war. Erst 1922 fand der amerikanische Botaniker Lewis Knudson dann eine Methode, Orchideen-Samen auf einem künstlichen Nährmedium zur Keimung zu bringen. Dadurch erhielt die Orchideen-Züchtung einen enormen Booster.

Aber auch schon zuvor war die Kultur und Züchtung der Orchideen beliebt und zum Teil sehr erfolgreich. Sie erforderte allerdings gewisse Ressourcen und war im viktorianischen England ein Steckenpferd der High Society und vermögender Industrieller, die dafür eigene Gewächshäuser bauten und oft die besten Gärtner des Landes beschäftigten. So machte sich etwa Norman Charles Cookson (1841-1909), der in Wylam, westlich von Newcastle-upon-Tyne durch den Handel mit Blei und Bergbau-Investitionen reich geworden war, einen Namen als Orchideenzüchter.

Diesen Ruhm verdankte er allerdings in erster Linie seinem Gärtner William Murray, dem mit der Züchtung einiger Calanthe-Sorten vielbeachtete Erfolge gelangen. In ihrer Januarausgabe 1894 berichtet die Zeitschrift The Orchid Review von einer Orchideenschau bei der Royal Horticultural Society in Westminster, bei der unter anderem die Kollektion von Norman C. Cookson hervorgehoben wird. Besonders erwähnt werden zwei Züchtungen Murrays, die beide die begehrte Auszeichnung Award of Merit erhalten: zum einen Calanthe × William Murray mit white segments and a dark crimson lip und dann Calanthe × Bryan mit creamy white flowers and a purple eye. Die Kreuzungen basierten auf unterschiedlichen Formen der in Ostasien weit verbreiteten Calanthe vestita.

Diese Calanthe vestita gehört zu einer kleinen Gruppe laubabwerfender Calanthe-Arten Ostasiens, die auch unter dem Namen Preptanthe bekannt sind. Sie bewohnen oft nur dünn mit Humus bedeckte Kalkfelsen und sind an eine saisonale Trockenperiode angepasst, die sie blattlos, nur mit ihren Pseudobulben überdauern. Leider gibt es von den beiden prämierten Calanthe-Züchtungen Murrays keine frühen Abbildungen. Die Beschreibungen passen allerdings ganz gut zu den beiden Farbvarianten von Calanthe vestita, die wir im Botanischen Garten kultivieren (siehe die beiden fotos im Beitrag).

Die Herkunft unserer Pflanzen ist leider nicht dokumentiert. Da es sich bei diesen Orchideen um sehr langlebige Pflanzen handelt, die wir seit Jahrzehnten kultivieren und die immer wieder vegetativ vermehrt wurden, kann es sich durchaus um die genannten Züchtungen William Murray oder zumindest um Züchtungen aus dieser Zeit handeln. Belegen lässt sich das aber heute nicht mehr. Eine Fotografie einer Calanthe × Bryan erschien erstmals 1910 in The Orchid Review. Die Abbildung ist in schwarz-weiß, lässt aber die durchgehend hellen Blütenblätter und einen dunklen Blütenschlund erkennen.

Im Botanischen Garten kultivieren wir etwa 50 Exemplare unserer beiden Farbvarianten von Calanthe vestita. Diese Pflanzen sind die meiste Zeit des Jahres ziemlich unansehnliche Orchideen mit großen, relativ dünnen Blättern, die auch noch anfällig für Schädlinge sind. Ab etwa März, wenn die Pseudobulben neue Blätter bilden, werden sie warm und feucht kultiviert. Ende September welken die Blätter und fallen schließlich ab. Nun werden sie nicht mehr gegossen. Aus der Basis der Pseudobulben entwickeln sich bald die langen Blütenstände, die in der Regel Anfang Dezember zu blühen beginnen. Kurz vor Weihnachten werden sie dann als Schnittblumen mit den Weihnachtskarten des Botanischen Gartens in den Schaltzentren der Universitätsverwaltung verteilt. Dass es sich dabei um eine garten- und kulturgeschichtlich besonders spannende Orchidee handelt, ist auch im Botanischen Garten kaum bekannt.

Aber selbst William Murray hat die Bedeutung seiner Calanthe-Züchtungen offenbar nicht allzu hoch eingeschätzt. Zumindest beendete er 1902 seine Tätigkeit als Orchideen-Gärtner bei Norman Charles Cookson und ging nach London, um in das Unternehmen seines Bruders einzusteigen, das sich auf die Wasserförderung aus artesischen Brunnen mittels eines neuen Druckluftverfahrens spezialisiert hatte. So berichtet es The Orchid Review in der Mai-Ausgabe von 1902 und zählt dann noch die Geschenke auf, die der hochgeschätzte Orchideen-Spezialist zum Abschied erhalten hat: einen schönen Schreibtisch von der Familie Crookson, eine Uhr von den anderen Beschäftigten des Hauses, noch eine Uhr von der Gardener’s Mutual Improvement Society und eine goldene Brosche für seine Frau. Zum Schluss wünscht ihm die Zeitschrift viel Erfolg auf diesem neuen Gebiet.

Heute sucht man allerdings vergeblich nach Spuren des Unternehmens der Brüder Murray, das den Namen The British and American Well Works trug. Ganz anders seine Orchideen, die noch immer viele Liebhaber kennen und die spätestens mit dem Sprung in die digitale Internetwelt unsterblich geworden sind.

Literatur

Brieger, F. G., R. Maatsch & K. Senghas, Hrsg. (1983) Rudolf Schlechter. Die Orchideen. Ihre Beschreibung, Kultur und Züchtung, 3. völlig neubearb. Aufl. Parey - Berlin und Hamburg.
Hawkes, A. D. (1965). Encyclopedia of Cultivated Orchids. an illustrated, descriptive manual of of the members of the Orchidaceae currently in cultication. Faber - London.
Weikmann, D. & E. Sand (2018). Calanthe vestita. Einfach - Blühfreudig - Schön. Orchideen Zauber 11(5) #62: 54-57.
Wing Yam, T. & J. Arditti (2009). History of orchid propagation: a mirror of the history of biotechnology. Plant Biotechnol Rep 3: 1-56.

Links

The Orchid Review, Vol. 2: 62 (1894) Orchids at the Royal Horticultural Society. By John Weathers. [The Biodiversity Heritage Library] The Orchid Review, Vol. 10: 158 (1902) [The Biodiversity Heritage Library] The Orchid Review, Vol. 18: 137-138 (1910) [The Biodiversity Heritage Library]

Text und Fotos Dr. Ralf Omlor | 20.12.2022

Zur Blütezeit im Dezember werden die Pseudobulben nicht mehr gegossen. Erst im März werden dann wieder neue Blätter gebildet.

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